Soziale Proteste in Israel: Der Schlüssel zu grundlegenden Veränderungen?

Großdemonstration in Tel Aviv am Samstag, den 23. Juli 2011. Foto: Marc Berthold/Heinrich-Böll-Stiftung. Original: flickr. Lizenz: CC BY-SA 2.0

Der Artikel ist auch auf englisch erschienen.

16. August 2011
Dahlia Scheindlin
In den ersten Wochen der Proteste gegen Wohnungsnot und soziale Missstände scheint es in Israel kein anderes wichtiges Thema mehr zu geben. Ein bis zwei Wochen nach Beginn der J14-Proteste (die Proteste begannen am 14. Juli in Tel-Aviv) dominierten sie das Tagesgeschehen in den Medien. Palästinenserkonflikt, Iran, die einseitige Ausrufung eines Palästinenserstaates im September und die Demokratiekrise gelangten nur mit Müh und Not auf die letzten Zeitungszeiten. Das Anti-Boykott-Gesetz (Wer erinnert sich überhaupt noch an einen solchen Gesetzantrag?) wurde bald von den Protesten überschattet. Das neue Gesetz, mit dem der jüdische Charakter Israels im Grundgesetz verankert werden soll – vielleicht die bisher böswilligste Attacke gegen die zwanzig-prozentige arabische Minderheit des Landes – schlug keine hohen Wellen. Alles war von Lobliedern voll Erstaunen und Bewunderung über die ständig steigende Menschenmasse erfüllt, die die Straßen allwöchentlich überfluteten. Zehntausende errichteten Zeltstädte in über 13 israelischen Städten und Kleinstädten und demonstrierten im ganzen Land. Nur der Sturz internationaler Finanzmärkte konnte die Euphorie ein wenig trüben.

Die Menschen waren vor Freude außer sich. Endlich ging es einmal um interne Belange. Die alten Themen wie der jüdisch-arabische Konflikt, die anti-demokratische Gesetzgebung und internationale Kritik an Israel gelten seit Jahren als unlösbar. Wie chronische Krankheiten ranken sie sich um die neuen Schlagzeilen. Viele Israelis haben längst abgeschaltet. Erst im letzten September schlug ein Artikel über friedensmüde Israelis im Time Magazine hohe internationale Wellen, spiegelte aber nichts desto weniger eine tatsächlich existente Politikverdrossenheit wider. Jetzt will man unbedingt über andere Dinge reden, die den Alltag der Menschen angeblich wesentlich stärker bestimmen.

Israelische Demonstranten klammerten sich zunächst an omnipräsente unmittelbare Fragen. Weshalb waren die Mieten so hoch? Wieso werden unzureichende Gehälter gezahlt? Wie kommt es, dass Bildung, Transport und grundlegende Konsumartikel trotz hoher Steuern mangelhaft oder unerschwinglich sind? Die Demonstranten haben bisher eisern darauf bestanden, ihre Forderungen von den chronischen Krankheiten zu trennen. Die zarte panisraelische Bewegung war zu fragil, um sie mit der bitteren Auseinandersetzung über ältere Streitfragen zu belasten.

Doch wird der soziale Aufstand der Massen mehr und mehr als Teil ein- und desselben Narratives betrachtet werden müssen. Erstmals in Israels Geschichte begeben sich ungekannte Menschenmengen auf die Straße. Demonstranten haben ihre Slogans ganz bewusst geändert. Der anfängliche Ruf "Das Volk will!" (soziale Gerechtigkeit und diverse andere Dinge) lautet heute "Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit!". Während einige in den Protesten ein Wiederaufleben der Demokratie sehen, sprechen andere vom Beginn eines neuen Zeitalters bürgerlicher Solidarität, einem neuen staatsbürgerlichen Bewusstsein und mit Nachdruck und Entschlossenheit verlangten Forderungen. Wohl am Bemerkenswerteste ist, dass Israelis, berühmt berüchtigt für ihre innere Zersplitterung und streitlustige Natur, einander nun plötzlich zuhören.

Die Zeit wird zeigen, ob diese neue Besinnung auf die Macht des Volkes und der Versuch, anderen gesellschaftlichen Gruppen zuzuhören, letztlich auf Umwegen nicht doch wieder zu großen, chronisch-kranken Streitfragen zurückführen wird?

Werden die selbst gesteckten Ziele die Bewegung angesichts ihrer Selbstbemächtigung und ihrem sozialem Bewusstsein nicht zwangsläufig wieder zur Auseinandersetzung mit den eigentlichen Fragen und möglicherweise deren Uminterpretation führen?

Wie präsentieren sich der israelisch-arabische Konflikt, die Demokratiekrise und die einseitige Staatsausrufung durch die Palästinenser im September durch die Brille der J14-Proteste?

Die folgende Analyse basiert auf meinen Beobachtungen der Protestbewegung und ihrer Entwicklungsgeschichte. Sie spiegelt sowohl optimistische wie auch pessimistische Szenarien wider (Optimismus und Pessimismus am Wunsch nach Demokratie und Frieden für Israel gemessen). Dabei darf nicht vergessen werden, dass diese Szenarien in großem Masse hypothetisch sind. Niemand, auch nicht die Demonstranten, weiß tatsächlich, wohin all dies führen wird.

Die israelische Gesellschaft. Ich frage mich nicht als einzige, ob diese Proteste mit ihrer Auflistung von spezifischen politischen Forderungen so etwas wie eine übergeordnete soziale Vision besitzen. Ständig neu aufkeimende Themen weisen in mehrere Richtungen. Die häufigste Parole gilt der Rückkehr oder Stärkung des Sozialstaats. Im Gegensatz zu den heftigen Debatten in den USA ist Israel eindeutig sozial ausgerichtet. Allerdings scheint mit der neoliberalen Ideologie von Premierminister Netanjahu und der in Israel herrschenden Vetternwirtschaft eine Zerreißgrenze erreicht zu sein. Unter Beibehaltung seines stabilen, freien und auf Innovation und Technologie beruhenden Marktes wird Israel innerhalb des sozialdemokratischen Lagers die Spielregeln wohl neu und reell definieren müssen.

Die israelische Demokratie. In den Zeltstädten bündeln sich erstaunlich bunte und unterschiedliche soziale Gruppierungen. Aber zumindest reden die Menschen miteinander. Lebhafte, verschwitzte Menschenansammlungen beweisen dies zu jeder Tages- und Nachtzeit: Sozialarbeiter sprechen mit Studenten; Kunsttherapeuten reden mit Hi-Tech-Beschäftigten, spirituell angehauchte religiöse Typen und ultraorthodoxe Juden unterhalten sich mit ultra-coolen Tel-Avivern. Ungefähr in der zweiten Woche schlugen dann auch palästinensische Staatsbürger ihre Zelte auf der Rothschild auf. Auch sie redeten mit all den anderen, selbst wenn ich genau so viel Streit wie konstruktive Gespräche gehört habe. Innerhalb weniger Wochen ließen sich dann auch die Siedler und rechte Gruppierungen organisiert auf dem Boulevard nieder. Dies heizte die Debatten weiter an, aber hier und da schenkte man einander auch Gehör.

Falls es die Demonstranten mit den Einheitsforderungen auf ihren Schildern ernst meinen, müssen die Klagen sämtlicher Teilnehmer berücksichtigt werden. Auch die anderen leiden – wenngleich auf andere Art und Weise – unter Wohnungsnot und hohen Lebenshaltungskosten. Oder wird man deren Forderungen unbeachtet lassen? Auf der bisher größten Kundgebung war der zweite Redner ein Palästinenser. Dies mag ein erstes Zeichen dafür sein, dass man auch die anderen durchaus weiter einbeziehen wird.

Sollten die Forderungen der Protestierenden gehört werden, werden J14-Demonstranten eventuell begreifen, dass gegenseitige Kompromisse nötig sind, um zumindest einige gemeinsame Ziele durchzusetzen. Aber auch das Gegenteil wäre durchaus denkbar. Hier ein eindeutiges Beispiel: Um Israels unausgewogenes Wirtschaftswachstum auszugleichen, sind Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Integration palästinensischer Bürger in das Arbeitsleben erforderlich. Während einige die Gelder - neben Einsparungen an anderer Stelle - beim Verteidigungshaushalt einsparen wollen, sind andere für eine Kostenreduzierung der israelischen Besatzung im Westjordanland. Israelische Araber werden sich wohl damit abfinden müssen, dass erst die Leistung eines nationalen Sozialdienstes ihnen die Tore zum Arbeitsmarkt öffnet. In beiden Fällen wären Zugeständnisse bestimmter Sektoren erforderlich.

Falls Israels Bürger zu maßgeblichen Kompromissen bereit sein sollten, wäre dies ein Präzedenzfall. Dann könnten auch den gesellschaftlichen Eliten wesentlich größere nationale Zugeständnisse abverlangt werden. Damit meine ich Kompromisse, die für eine schriftliche Verfassung erforderlich wären, in der die Rechte der Bürger und die nationale Vision des Staates festgehalten werden. Es ist aber auch ein anderer Verlauf der Dinge möglich. Bisher ist es Spitzenpolitikern in der gesamten Geschichte Israels nicht gelungen, derartige Kompromisse zu erzielen. Vielleicht können sie hier von den Bürgern etwas lernen.

Israels Wahlsystem. Sollte die Protestbewegung ein derart mächtiges Momentum der Solidarität und des Kompromisses hervorbringen und das Interesse an einer Verfassung wecken, wären auch andere massive Veränderungen denkbar. Zu den zentralen, bereits seit Jahren diskutierten Fragen gehört eine Reform des Wahlsystems. Falls die Proteste, wie meine Kollege Dimi Reider glaubt, auf der Basis gemeinsamer Alltagsprobleme ein Einheitsbewusstsein schaffen, das sektorale Identitäten überwindet, könnte dies eine Veränderung der Parteienstruktur nachsichziehen, die diese Veränderungen reflektieren würde. Ist es in Israel überhaupt denkbar, eine vor allem sektoral geprägte Parteienlandschaft – es gibt Parteien für Religiöse, Säkulare, palästinensische Staatsbürger etc. – ausschließlich auf der Grundlage sachlicher Interessen herbeizuführen, deren Wähler nach sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnissen (und nicht nur entlang der Siedlungspolitik) entscheiden?

In diesem Fall wäre ein neues Wahlsystem, wie es von einigen Demonstranten bereits verlangt wird, dringend erforderlich. Die Einführung eines teilweise regionalen Wahlverfahrens wird schon lange erwägt. Auf diese Weise hätten Gesetzgeber den tatsächlichen Bedürfnissen der Wähler mehr Rechenschaft abzulegen. Solche Anliegen haben noch nie ein großes soziales Momentum geschaffen, aber vielleicht könnte sich das ändern. Mit weniger Israelis, die sich zu fragmentierten sektoralen Splitterparteien hingezogen fühlen, würde es eines Tages eventuell insgesamt weniger Parteien geben.

Der Palästinenserkonflikt. Die vielen kleinen Parteien in der israelischen Regierungskoalition, die untereinander oftmals ideologisch oder religiös zerstritten sind, haben es Israel fast unmöglich gemacht, schmerzliche Kompromisse durchzusetzen, die ein Abkommen mit den Palästinensern erfordert.

Ein neues politisches System mit weniger Parteien würde mehr politischen Spielraum schaffen. Dringende soziale Missstände würden eine Umverteilung des nationalen Haushalts und der durch Beilegung des Konflikts freiwerdenden staatlichen Gelder verlangen. Die neue Kompromissbereitschaft zugunsten eines besseren Lebens könnte Israel die nationale und politische Reife verleihen, die zu derartigen Kompromissen nötig ist.

Das Problem. Sollten die Proteste wirklich so tiefgründig sein, wie sie den Anschein erwecken, werden zukünftige mögliche Veränderungen weitreichend aber langsam sein. Doch ist der September die Gegenwart. Während die israelische Bevölkerung unter Umständen am Anfang einer neuen Ära steht, sind die Palästinenser am Ende ihrer Kräfte angelangt. Und im Israel der Gegenwart verschlingt Euphorie noch immer Schlagzeilen.

Die sozialen Proteste könnten politische Prozesse durchaus überschatten und dem Friedensprozess schaden, weil das Augenmerk auf einzelne politische Fragen – wie das nationale Wohnungsbaugesetz, die Privatisierung der Israelischen Landbehörde oder die kostenlose Versorgung von Kleinkindern – gelenkt wird. Das Gesetz zum  jüdischen Charakter des Staates, die Genehmigung des Baus weiterer jüdischer Häuser und Wohnungen in Ostjerusalem zeigen, dass die Regierung im Schutz der Proteste tiefgründige und problematische politische Fragen entscheidet.

Schlimmsten Falls wird die Regierung, um die Aufmerksamkeit von den J14-Protesten zu lenken, im September eine Eskalation der Gewalt bei den Palästinensern zulassen (oder gar forcieren). Aber es gibt noch eine letzte andere Möglichkeit: Israels politische Spitze könnte, um die Aufmerksamkeit von den sozialen Protesten abzulenken, auch ein historisches Friedensdrama inszenieren.

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Dahlia Scheindlin ist internationale Meinungsforscherin und Journalistin mit Sitz in Tel-Aviv. Sie schreibt für Jerusalem Report Magazine und verfasst regelmäßige Blogs für das +972 Magazin.

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